Roman
Mit einem Nachwort von Pascale Eberhard
1988

224 Seiten, engl. Broschur
€ 12,50, SFr 18,50
ISBN 978-3-924652-10-4

Elisabeth Augustin
Auswege


Amsterdam, kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Marianne und Paul, deutsche Emigranten, die zu Beginn der Hitlerzeit in Holland Zuflucht gesucht haben, fahren für ein paar Tage ans Meer. Sie reisen zusammen mit Viktor, einem Jugendfreund Mariannes, der während der Besatzungszeit bei ihnen untergetaucht war. Ein Ausflug, der Marianne die Aussöhnung mit Paul und die Lösung von Viktor bringen soll. Doch die Männer streiten sich und Marianne, von bösen Ahnungen getrieben, besteht darauf, sofort zurückzufahren, um nach ihrer Tochter Dorle zu sehen. Dorle ist veschwunden...

Buchentstehung
1982 notierte ich mir zum ersten Mal den Namen Elisabeth Augustins: damals als ich, noch in vorverlegerischer Zeit, in Amsterdam die umfassende Ausstellung 'Berlin-Amsterdam' besuchte. Später lernte ich im Exilarchiv der Deutschen Bobliothek Pacale Eberhard kennen, die mit der Autorin in Kontakt stand. Ich fuhr nach Amsterdam. Elisabeth Augustin arbeite damals an der deutschen Fassung des Manuskripts - die niederländische war unter dem Titel Labyrinth bereits erschienen. Außer ihrem Roman ‘Auswege’ verlegte ich auch die Erzählsammlung Das Guckloch.

Zur Autorin

Elisabeth Augustin wurde 1903 in Berlin geboren und wuchs in Leipzig auf. Sie nahm Schauspielunterricht und arbeitete für Presse und Funk. 1933 floh sie zusammen mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern nach Amsterdam. Seitdem schrieb die Autorin in zwei Sprachen: Erzählungen, Romane, Hörspiele und Gedichte. Sie übersetzte aus dem Niederländischen und besprach deutsche Neuerscheinungen für die niederländische Presse. 1977 erhielt sie den Georg-Mackensen-Preis für die beste deutsche Kurzgeschichte, 1987 den Kogge-Ring der Stadt Minden, 1992 die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts und den Jacobsonpreis der Stiftung Tollensfonds. Sie starb 2001 in Amsterdam.

Pressestimmen

"Im Spannungsfeld zwischen authentischem Erzählen und assoziativ-visionärer Wortwelt entwickelt Elisabeth Augustin einen eigenwilligen Versuch der Befreiung von den Traumata der eigenen Geschichte. Indem Geschichte als individuelles Schicksal erfahren wird, drückt sich hier der verzweifelte Versuch aus, unmittelbar nach dem Krieg als überlebende des Grauens mit dem endgültigen Verlust geliebter Menschen fertig zu werden und weiterzuleben." (Kerstin Reimers, LISTEN)

"Virtuos baut Elisabeth Augustin von Anfang an eine Welt aus Zeichen auf, darin es kein Ende der Verweisungen gibt. Keine ihrer Figuren lebt mehr ein ‘wirkliches’ Leben. Es ist nach 1945, und jedes Stückchen Gegenwart verbindet sich mit ‘früher’, Leben ist in jedem Moment fraglich. Um das zu strukturieren, greift Elisabeth Augustin zu einem Mittel, das in den 50er Jahren hochmodern war, dem polyperspektivischen Erzählen (Andersch, Böll, Frisch usw.)" (Alexander von Bormann, Die Horen)

Textprobe

Der Krieg war vorbei. Krankheiten Hunger und andre Entbehrungen und Schrecknisse des letzten Kriegswinters waren schon fast wieder vergessen als es zum ersten Mal in mein Bewußtsein drang daß ich Mama nie wiedersehn würde. Da erst erkannte ich daß die Erde ein Friedhof ist auf dem wir herumspazieren. Mir schwindelte. Nicht nur der Boden unter meinen Füßen schwankte das Schwanken spielte sich auch in meinem Kopf ab. Ich begann an allem zu zweifeln was ich sah fühlte sagte tat. Ich zweifelte daran ob ich wirklich lebte ob die Stadt existierte in der ich herumlief ob das Haus noch dastand in dem wir wohnten und ob ich es wiederfinden würde jedesmal wenn ich es verlassen hatte. Oh ich widersetzte mich. Ich versuchte mich selbst hinters Licht zu führen. Ich versuchte den Tod und die Peinigungen der Deportierten auf andre Weise zu sehn von einem andern Gesichtswinkel aus. Aber was ich auch tat es war stärker als ich es überrumpelte mich nachts wenn ich müde und nicht auf der Hut war. Dann tauchte es vor mir auf: Gedanken Vorstellungen Bilder ein Totentanz. Die Gaskammern und das Geschrei und der Fußboden der sich öffnete nachdem alles vorbei war die Peitschenschläge das Schießen auf Wehrlose als seien es Puppen in einer Schießbude. Das Entsetzen. Ich versuchte es zu zeichnen zu malen in der Hoffnung es würde mir helfen. Es half jedoch nicht oder nur für kurze Zeit. Danach kehrte alles um so deutlicher um so tastbarer zurück. Ich konnte nicht allein damit fertig werden ich brauchte Hilfe mußte mich an einen Menschen klammern dem keine Toten zusetzten an einen Menschen dem sie nichts anhaben konnten. Zum ersten Mal flüchtete ich da zu Viktor. Paul schlief in seinem Sprechzimmer. Er war genauso müde und erschöpft vom letzten Kriegswinter wie ich. Wir wollten einander schonen.