Erinnerungen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wolfgang Benz
1988

228 Seiten, engl. Broschur
€ 8, SFr 12,30
ISBN 978-3-924652-09-8

Willy Vogelsinger
Nicht verloren gegangen


Die meisten Selbstzeugnisse aus dem Exil stammen von Intellektuellen. Diese Erinnerungen eines Arbeiters setzen mit der lieblosen Kindheit in Hessen ein und reichen bis in die fünfziger Jahre. Sie verstehen sich als Beitrag zu einer Geschichtsschreibung “von unten”. Der Autor schilder sein wechselvolles, von Entbehrungen geprägtes Leben anschaulich und ohne Hass.

Buchentstehung
Willy Vogelsinger lernte ich 1983 bei einer Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde Mannheim kennen. Seine Lebensgeschichte interessierte mich. Wir freundeten uns an, und es entstand die Idee, seine Erinnerungen in Buchform zu bringen. Es dauerte lange Jahre, bis das Buch schließlich 1988 erscheinen konnte. Der Autor hatte es peu-a-peu auf der Basis zahlreicher Gespräche, die wir miteinander führten, selbst geschrieben. Und Wolfgang Benz erklärte sich bereit, das umfangreiche Konvolut herauszugeben.

Zum Autor

Willy Vogelsinger (1905-1993) stammt aus Frankfurt und wuchs in Sprendlingen (heute Dreieich) auf. Der gelernte Schneider ging Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er im Roten Jungsturm politisch aktiv wurde. Wegen seiner Teilnahme am großen Verkehrsarbeiterstreik 1932 wurde er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Dank einer Amnestie kam er frei und konnte sich vor dem einsetzenden NS-Terror ins Ausland retten: Prag, das Saarland, Luxemburg nach Frankreich waren die Stationen seines Exils. In Frankreich wurde er in Gurs und Les Milles interniert. Durch einen beherzten Sprung aus dem Deportationszug konnte sich Willy Vogelsinger nach Spanien retten. 1950 ging er in die DDR, hielt es dort jedoch nicht lange aus und zog schließlich in den Westen, zuerst nach Heilbronn, dann nach Mannheim.

Pressestimmen

"Ein Buch ohne Schnörkel, ohne falsche Töne oder gnädiges Übersehen unangenehmer Fakten. Es gewinnt durch die Menschlichkeit eines Mannes, der sich trotz oder wegen des selbst erlittenen Unrechts das Einfühlungsvermögen für Leiden anderer bewahrt hat." (Joachim Hemmerle, Mannheimer Morgen)

"Vor allem sind es zwei Gründe, die diese Erinnerungen so wichtig machen: Zum einen ist es eine der ganz wenigen Autobiografien, die nicht von Intellektuellen (oder Funktionären) geschrieben sind. Zum anderen -- und das ist vielleicht das wichtigste -- kann dieses Buch Mut machen: Mut, den ‘Stein’ wieder aufzunehmen, ihn den Berg hinaufzurollen, nicht aufzugeben." (Erich Eberts, Fundevogel)

Textprobe

Die Not der Arbeitslosen war schier unerträglich. Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Eine Familie bekam für einen Haushalt von fünf Personen 24 bis 26 Reichsmark wöchentliche Arbeitslosenunterstützung. Wie groß der Hunger der Arbeitslosen war, zeigten mir zwei Erlebnisse. Dem Bahnhof Zoo gegenüber gab es ein Lokal, das sich “Wilhelmshallen” nannte. Es war ein Treffpunkt nationalreaktionärer Kreise. Es war Sommer, und man saß draußen. Ein Mann näherte sich einem Tisch des Lokals, nahm sich ein Brötchen, biß hinein und versuchte, ohne zu bezahlen zu verschwinden. Zwei Kellner stürzten sich auf ihn und prügelten auf ihn ein. Ich versuchte ihm beizustehen, aber inzwischen mischten sich die reaktionären Spießbürger ein, gingen jetzt auf mich los und nannten uns arbeitsscheues Gesindel, Diebespack und Kommunistenschweine. Ich konnte gegen diese aggressionslustige Meute nichts ausrichten. Inzwischen hatte man die Polizei alarmiert. Der Mann wurde verhaftet und abgeführt. Wegen eines Brötchens wäre diese Horde im Stande gewesen, einen Menschen zu erschlagen. (1924)