Erzählungen eines zeichnenden Menschen

erscheint im August 2009

256 Seiten, Hardcover
D: € 22,00, A: € 22,70, SFR 34
ISBN 978-3-924652-36-4

Eduard Kotschergin
Die Engelspuppe


Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Renate Reschke und Thomas Reschke

Die durch den autobiografischen Rahmen locker verbundenen Erzählungen schildern kenntnisreich und plastisch den russischen Alltag. Eindrucksvolle Porträts von Menschen, Städten und Landschaften ziehen den Leser in ihren Bann. Das zerstörte Leningrad ist ein wiederkehrender Schauplatz, aber auch der russische Norden, den der Autor viel bereiste. Wir treffen Kriegskrüppel, Gauner, Funktionäre, Bauern, Gelehrte, Huren, Priester, Kräuterweiblein und Gespenster. Suff, Niedertracht und Grausamkeit sind ebenso allgegenwärtig wie aufblitzende Menschlichkeit, Liebe und Güte. Die ergreifenden, schier unglaublichen menschlichen Schicksale beschreibt Kotschergin in schlichter Sprache von luzider Klarheit. Kunstvoll verschränkt er den kriminellen Slang der Berufsdiebe, Lagerhäftlinge und minderjährigen Huren mit Poesie. Ein unvergessliches Leseerlebnis und ein kostbarer Beitrag zum Verständnis für das Leben der Russen im 20. Jahrhundert.

Buchentstehung
Ich wollte gern einmal wieder ein russisches Buch verlegen und beriet mich deswegen mit Thomas Reschke. Er meinte, er hätte da etwas liegen, es sei allerdings etwas Besonderes ... Das war "Die Engelspuppe" von Eduard Kotschergin. Unsere Ausgabe umfasst zwei Drittel der Originalausgabe sowie die lange Erzählung "Führer in Draht", die im Internet veröffentlicht wurde. Um die Freude des Übersetzens zu teilen, haben sich drei Berufene die Erzählungen aufgeteilt: Renate Reschke, Thomas Reschke und Ganna-Maria Braungardt.

Zum Autor

Den Rohstoff für seine Geschichten schöpft Eduard Kotschergin aus den Begegnungen und Erlebnissen, die ihm sein bewegtes und zum Teil bitteres Leben bescherte. 1937 geboren, verbrachte er Jahre in staatlichen Erziehungsheimen, nachdem sein Vater im Gulag verschwunden und die Mutter verhaftet worden war. Er floh aus dem NKWD-Heim in Sibirien und schlug sich nach Leningrad durch. Er war Mitglied einer Diebesbande und lebte auf der Straße. Nach der Ausbildung an der Leningrader Kunstakademie konnte er schließlich sein Zeichentalent zum Beruf machen: Kotschergin wurde Bühnenbildner und Szenograf. Er arbeitete an verschiedenen russischen Theatern, erhielt vielfach internationale Auszeichnungen und ist derzeit leitender Bühnenbildner am Großen Dramatischen Theater (Towstonogow-Theater) in St. Petersburg.
Die 2003 erschienene Engelspuppe wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Das Buch liegt inzwischen in der dritten Auflage vor. 2008 erhielt der Autor dafür den Triumph-Preis.

Pressestimmen

"Ein Roman von Weltrang … autobiographisch und poetisch, direkt und sprachgewaltig." (Matthias Biskupek, Eulenspiegel)

"Der Bühnenbildner am Großen Dramatischen Theater in St. Petersburg ist selbst ein gezeichneter Mensch. Was Eduard Kotschergin als Kind und Heranwachsender durchmachte, ist eigentlich unbeschreiblich... Sein bildnerisches Talent lässt ihn Figuren nachzeichnen, unglaubliche Persönlichkeiten, deren Grausamkeit und Mildtätigkeit, deren Verruchtheit, deren krimiller Ehrbegriff, deren Vulgarität und Leiden ein einzigartiges kritisches Tableau der sowjetischen Gesellschaft von der späten Stalinzeit bis in die siebziger Jahre ergeben.
Kotschergin erzählt lakonisch, lässt die selbst erlebten Geschichten, ihren Schmerz und ihr immer wieder unverhofftes Glück unverklärt wirken. Das Drastische nimmt zuweilen Züge des Komischen an, um einem gleich wieder im Halse stecken zu bleiben. Der Autor erfindet den Menschen nicht neu, sondern zeigt ihn in seiner wirklichen ‘Pracht’, die er auch in der sozialistischen Wirklichkeit annahm... Eine atemberaubende Schlichtheit ergreift den Leser, die Poesie des Unausgesprochenen folgt aus der Dramaturgie des Menschlichen – das ist von hohem literarischen Rang... Die deutsche Ausgabe wurde mustergültig übertragen. Der kleine Mannheimer persona verlag hat das Buch sehr schön gestaltet und ihm hilfreiche Erläuterungen beigegeben." (Harald Loch, Mannheimer Morgen)

"Ein wunderbares Buch, trotz der harten bis unmenschlichen Lebensumstände, die es schildert, geschrieben in einem poetischen, anteilnehmenden und warmherzigen Ton." (Barbara Scholz, Zeit für Bücher, Lindemanns Buchhandlung, Stuttgart)

"Wahrscheinlich die beste Prosa der letzten Jahre ... Ein Roman in Erzählungen. Erstaunlich das Gedächtnis des Autors, sein Stil, seine meisterliche Erzählkunst. So frei bewegt er sich in den verschiedenen Sprachebenen, so anschaulich und klar schreibt er, dass es manchmal schwer fällt, an den dokumentarischen Kern zu glauben." (Nikolaj Alexandrow, Echo Moskaus)

"Unter den Erzählungen des Bandes finden sich wahre Meisterwerke im Geist der klassischen russischen Literatur. Hauptthema sind die Erniedrigten und Beleidigten, die Deklassierten, der 'Abschaum'... Doch welche Persönlichkeiten! Was für dramatische Geschichten, welche Poesie und was für ein Schmerz! Schon lange nicht mehr habe ich ein solches Lesevergnügen an einer Sprache und einem Stil empfunden, wie sie nur großer Literatur eignen. Eduard Kotschergin ist ein Meister, ein Künstler von Gottes Gnaden." (Mark Rosowskij, Nesawissimaja gaseta)

Textprobe

"Endlich kam der Fähnrich aus seiner Königsberger Ferne und brachte ein Geschenk mit, eine große Schachtel, in der ein fremdländisches Wunderding lag - eine deutsche sprechende Puppe mit Haaren, so flachsblond wie Paschkas, und himmelblauen Augen, gesäumt von langen, dichten Wimpern. Sie trug ein prächtiges spitzenbesetztes weißes Brautkleid mit Brautschleier und weiße Atlasschuhe mit silbernen Schnallen. Aber das Wichtigste - sie konnte die Augen auf- und zumachen und "Mama" sagen. Diese Schönheit, das unverhoffte Glück, die Angst, es könnte gar nicht wahr sein, überwältigte Paschka, und sie bekam Schluckauf. Die ganze Woche, die der Fähnrich da war, brauchte sie, sich an die Puppe zu gewöhnen, und hatte Scheu, das unglaubliche Wesen zu berühren. Der Seemann, bevor er wieder in die blaue Königsberger Ferne entschwand, schwor Paschka hoch und heilig, sie beim nächsten Mal samt Puppe mitzunehmen in sein Paradies, dann war er weg, als hätten ihn die Wellen verschlungen. Als die Freundinnen im Leninpark von dem schicken Geschenk erfuhren, verlangten sie von Paschka, die Brautpuppe dem versammelten Artel vorzuführen. Paschka musste sich fügen."