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Kamel Daoud
Minotaurus 504
Vier Personen erheben ihre Stimme: Ein in die Jahre gekommener Taxifahrer warnt in seinem klapperigen Peugeot 504 die Fahrgäste vor der Hauptstadt, die ihm seine Illusionen geraubt hat. Ein ehemaliger Luftwaffenoffizier hat mit eigenen Händen ein Flugzeug gebaut, das er auf der internationalen Messe in Algier ausstellt, doch es interessiert sich niemand dafür. Ein junger Algerier nimmt am 10 000−Meter−Lauf der Olympiade in Athen teil und kann nicht aufhören zu laufen. Ein Ghostwriter, der die Erinnerungen eines alten Analphabeten aufschreiben soll, fällt aus seiner Rolle und verändert den Text nach Gutdünken.
Verloren im Labyrinth ihrer Obsessionen, verfolgen diese "Helden" unermüdlich ihr Ziel. Sie kämpfen, um ihrem Dasein einen Sinn zu geben. In Daouds Erzählungen wird sichtbar, warum es in Algerien nach zehn Jahren Bürgerkrieg und weiteren zehn Jahren politischen Stillstands keinen "Frühling" gibt wie anderswo und weshalb Zehntausende junger Männer ihr Leben riskieren, um Europa über das Mittelmeer zu erreichen.
In Deutschland und Algerien wissen wir zu wenig voneinander. "Ich freue mich über die deutsche Ausgabe", schreibt Kamel Daoud, "in der Hoffnung, Ihre Leser mit einem imaginären Algerier und Araber bekannt zu machen."
Buchentstehung
Als im Herbst 2011 der Pariser Verlag Sabine Wespieser mir seine Vorschau schickte, fühlte ich mich gleich von Kamel Daoud angezogen. Seine Erzählungen schienen mir ebenso ungewöhnlich wie wichtig zu sein. In der Übersetzung von Sonja Finck hat sich dieser erste Eindruck bestätigt.
Zum Autor
Kamel Daoud wurde 1970 in der algerischen Hafenstadt Mostanagem geboren. Er begann seine journalistische Laufbahn als Straßenreporter und ist heute Chefredakeur des "Quotidien d’Oran", in dem er die Kolumne "Raïna Raïkoum" ("Meine Meinung, Eure Meinung") veröffentlicht. Kamel Daoud bietet, wie er es nennt, "eine tägliche Dosis Subversion" an. Er schreibt französisch und veröffentlicht seine Artikel u.a. im Internetforum "Slate Afrique" und über Facebook. Seine Stimme ist ebenso eigenwillig wie ausdrucksvoll, seine Texte sind durch einen lebendigen, poetischen Stil und politischen Scharfsinn geprägt.
Daoud hat in Algerien vier Bücher publiziert: Raïna Raïkoum, eine Sammlung seiner Kolumnen (2002), La Fable du Naïn (Roman, 2003), Ô Pharaon (Roman, 2005), L’Arabe et le vaste pay de ô... (Erzä2008). Für Letztere hat er 2008 den Mohammed−Dib−Preis erhalten. Le Minotaure 504 erschien 2011 in Paris bei Sabine Wespieser. Mit Minotaurus 504 macht der persona verlag das deutsche Publikum erstmals mit einem Autor bekannt, dessen sozial−politische Analysen und klare Sprache in seiner Heimat umso mehr geschätzt werden, als das algerische Fernsehen staatlich kontrolliert ist.
Pressestimmen
"Vier Männer, die während sie ihrer Arbeit nachgehen, sich das Schwarze von der Seele erzählen: in Gleichnissen und Bildern von schwärender Sinnlichkeit. Märchenhafte Hassgesänge, zornige Liebeslieder: und neben der persönlichen Geschichte gelten sie immer auch den Aufständen, Mythen und Gespenstern Algeriens." (Ingrid Mylo, Badische Zeitung)
"Die vier Erzählungen zeichnen ein eindringliches Porträt des heutigen Algeriens, seiner Missstände, seiner Enttäuschungen und seiner gescheiterten Träume. Sie dekonstruieren die offizielle Geschichte mit den Waffen der antiken Mythologie. Zwischen Absurdität und Wahnsinn lesen sich diese kurzen Texte wie ein kleines Brevier der Revolte, ein zutiefst poetisches und menschliches Manifest." (Le Monde des Livres)
"Kamel Daoud setzt absichtlich Menschen aus dem Volk in Szene, kleine Leute, abgründige Gestalten, die Underdogs des heutigen Algerien. Aber er lässt sie nicht im Straßenjargon sprechen. ... Die vier Erzählungen sind in einem Französisch verfasst, dessen klassische Harmonien der Autor souverän beherrscht. Kamel Daoud plädiert für einen weniger folkloristischen Blick auf die Welt und das Leben. Und damit für einen universelleren." (Le Figaro Littéraire)
Textprobe
In den Siebzigerjahren wollte ich zum ersten Mal nach Algier. Ich bin ein echter Algerier, weißt du.
Ich komme vom Dorf, ich kenne meine Eltern, nicht wie diese Schwätzer aus der Stadt. Meine Mutter hatte zwei Ehemänner, aber ich nur einen Vater.
Der erste war ein hoher Beamter in der Präfektur, jemand mit Verantwortung, wie man so sagt, ein Mann, der es nie verstanden hat, das Begehren meiner Mutter
zu wecken. Das sagte sie jedenfalls oder vielmehr schloss ich es aus ihren Worten, als sie mir erzählte, wie sie meinem Vater zwischen hohen Gräsern begegnet
war. Ich weiß also, wo ich herkomme, aber ich hatte damals keinen Ort, wo ich hinkonnte. Ich erinnere mich noch ganz genau. Nicht an die Reise, sondern
an den Dorfausgang. An die Straße nach Osten. Dort wartete ich auf ihn. Weißt du, auf wen? Nein, ihr jungen Leute wisst so was nicht mehr.
Ich wartete auf den Bus nach Algier. In den Siebzigerjahren hielt noch in jedem Dorf ein Bus. Bei uns kam er um vier Uhr morgens. Ich war jung. Und ich hatte
Angst, weil mir noch kein Bart wuchs (sein Schnurrbart war dicht, und er versteckte sich dahinter wie hinter einer Mauer oder hinter den Hörnern eines Stiers,
der aus Einsamkeit zu viel redet). Es war mein erster missglückter Aufbruch. An jenem Tag hatte der Bus eine Stunde Verspätung, und da war ich längst
wieder auf dem Rückweg zum Haus meines Vaters.
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