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Mies Bouhuys
Anne Kitty und die beiden Paulas
Anne Frank kam 1929 in Frankfurt zur Welt. Als ihre Familie Deutschland verlassen muß, ist sie knapp vier Jahre alt. Die Franks ziehen nach Amsterdam, wo Anne und ihre Schwester Margot wie Holländerinnen heranwachsen. Doch nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 beginnt für die Franks erneut die Angst: die Judenverfolgung setzt auch in Amsterdam ein. Im Juli 1942 tauchen sie unter und leben versteckt. Über diese Zeit, über das Zusammenleben auf engstem Raum haben wir Kenntnis durch das inzwischen weltberühmte Tagebuch, das Anne führte. Die Untergetauchten werden verraten und im August 1944 nach Auschwitz deportiert. Anne und Margot werden weiterverschleppt nach Bergen-Belsen. Beide sterben dort.
Mies Bouhuys schildert das Leben Anne Franks von 1933 bis zu ihrem Tod. Private Szenen wechseln mit Passagen, in denen die Autorin historische Zusammenhänge erklärt.
Buchentstehung
Mies Bouhuys erlebte als Jugendliche den Krieg in Holland. Ihr Buch über Anne Frank wurde mir von der Agentur Liepman angeboten. Es war die erste "Biographie", die in Deutschland über Anne Frank erschien. 1987 stand sie auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Zur Autorin
Mies Bouhuys, 1927 in Weesp geboren, zählt zu den bekanntesten Jugendbuchautorinnen
in den Niederlanden. Sie studierte Pädagogik und Spanisch. Für ihre zahlreichen
Kinderbücher, Theaterstücke und Musicals erhielt sie mehrere Literaturpreise.
Krieg und Nationalsozialsmus sind Themen, die sie immer wieder beschäftigt haben,
nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erlebnisse im besetzten in Holland. Mies Bouhyus lebt in Amsterdam.
Pressestimmen
"So wie Annes Familie aus Deutschland nach Holland flüchtete, so
leben auch heute Flüchtlinge aus anderen Ländern in Holland (und
in Deutschland). Verhalten können sich Kinder zu solchen
Problemen nur, wenn sie Bescheid wissen. Dazu ist das Buch
von Mies Bouhuys ein wichtiger Beitrag." (Heike Brandt,
tageszeitung)
"In diesem umfangreichen Kinderbuch schildert
Mies Bouhuys das Leben der Anne Frank ab dem Jahr 1933.
Gleichzeitig werden auch die historischen Zusammenhänge gut
erklärt. Das ist auch notwendig, weil viele Kinder gar nicht
wissen können, was damals eigentlich passiert ist. Und Kinder
sollten solche Bücher lesen ..." (Stefan Gelberg, Der bunte Hund)
"Mies Bouhuys weckt bei älteren Lesern das Interesse, das Tagebuch
der Anne Frank wieder zu lesen, ihr Buch ist für Menschen ab sieben
oder acht Jahren geeignet, die wissen wollen, wie das damals war ...
Mit meinen anfänglichen Zweifeln, ob denn die authentischen
Tagebuchaufzeichnungen der begabten Anne Frank noch durch ein
zweites Anne-Frank-Buch zu ergänzen seien, räumte Mies Bouhuys
auf, denn sie schrieb die notwendige Bereicherung zu diesem Thema dunkler Vergangenheit, die wir heute viel zu leicht
verdrängen." (fe, Börsenblatt)
Begründung der Jury: "Die Autorin entfaltet Bilder und Erlebnisse aus der
Kindheit Anne Franks. Das Tagebuch und weitere Dokumente sind die
Grundlage einer einfühlsamen Annäherung. Kindern wird hier die Geschichte eines Kindes nahegebracht: von 1933, dem Jahr der
Übersiedlung der Familie Frank ins holländische Exil bis zu Annes Ende im Konzentrationslager Bergen-Belsen 1945. Die schlichte und verständliche Erzählung hilft Kindern, sich in die historischen Voraussetzungen dieses Kinderlebens hineinzudenken." Die Jury empfiehlt das Buch ab neun Jahren.
Textprobe
'Hast du noch nie eine Kartoffel gesehen?' fragt eine
fröhliche Stimme dicht an ihrem Ohr. 'Pim, wie schön,
daß du so früh da bist!' ruft Anne. Sie hakt sich bei
ihm ein und macht genauso große Schritte wie er. 'Weißt
du, wie man die Kartoffeln aus dem Boden holt?' 'Keine
Ahnung', sagt Pim, 'im Herbst vermutlich.' Er schaut
nach der Knolle in Annes Hand. 'Du willst mir doch
nicht erzählen, daß die hier auf dem Rasen gewachsen
ist?' 'Nein', sagt Anne, 'sie gehört Herrn Hirsch.'
Und während sie ihm die ganze Geschichte von den
Kartoffeln, Zwiebeln und Schuhbändern erzählt, blicken
beide zu dem Fenster ohne Gardinen hinauf. Herr Hirsch
sitzt an seinem Tisch, den Kopf tief über die Arbeit
gebeugt. Sogar von hier unten kann man sehen, wie
seine Hand sich beim Schreiben bewegt. 'Er arbeitet
sicher an einem Buch', sagt Pim. Anne schüttelt den
Kopf. 'Nein, er schreibt Adressen. Mehr als tausend
am Tag. Für Taubenfutter. Und anderes Vogelfutter.'
'Taubenfutter?' fragt Pim. 'Ich verstehe kein Wort.'
'Na ja, es ist Reklame oder so was ... Du weißt schon,
was man den Leuten ins Haus schickt, damit sie wissen,
welches Vogelfutter das beste ist. Und der Professor
muß alle Adressen aus dem Telefonbuch abschreiben.
Wiesje hat es mir selbst erzählt. Aber ich finde es
doch komisch.' Pim schüttelt leicht den Kopf. 'Ihm
selbst wird es wohl noch viel komischer vorkommen', sagt er. 'Weißt du, ein Professor in Berlin, das ist schon wer. Die jungen Leute schauen zu ihm auf. Sie lesen seine Bücher, hängen an seinen Lippen. Noch Jahre
später wissen sie, wie er die schwierigsten Dinge ganz einfach erklärt hat. Und jetzt ...' Mit einem Seufzer schaut er nochmals zum Fenster hinauf, 'Vogelfutter...'
Auch Anne schaut hinauf. 'Der Hitler, gelt...', sagt sie.
Pim gibt keine Antwort, er zieht nur die Augenbrauen kurz hoch. Anne weiß, warum. Für ihn ist ein Mädchen, das in die erste Klasse der Montessori-Schule geht, viel zu klein, um über Deutschland und Hitler zu reden. Sie schließt die Hand fest um die Kartoffel und wirft sie dann in hohem Bogen mitten auf den Rasen.
Schweigend laufen beide an ihrem Haus vorbei und beginnen ihren allabendlichen Spaziergang: 'Pim und Anne laufen um den Häuserblock', sagt die Mutter dazu.
Pim denkt an den Professor in seiner Stube und an das, was Anne ihm erzählt hat. 'Es ist unmöglich, alles vor Kindern wie Anne und Margot zu vertuschen', denkt er. 'Allein an diesem Platz wohnen sechs Familien, die aus Deutschland geflohen sind. Natürlich wird zu Hause und in der Schule darüber geredet.'
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